Zu den Fotografien von Helga Paris

Sieht man heute auf die »alten Bilder« aus der DDR, stellt sich eine merkwürdige Empfindung ein. Man meint, die Welt auf diesen Bildern sei untergegangen, aber das ist ein Trugschluß. Unter den neu gestrichenen Fassaden, hinter den aufgeklebten Dekors und unter den in frischem Rot erstarrten Dächern lebt etwas von ihr fort. Wer mit den Schussverletzungen, den Granatenspuren und rohen Brandmauern der Stadt erwachsen geworden ist, sieht sie weiterhin - auch in den nun helleren Straßen, durch deren Erneuerung sich der Motivvorrat für die Fotografen allmählich erschöpft hat. Noch sind diese Bilder einer gegenwärtigen Vergangenheit nicht archiviert und die leise Melancholie atmet fort, die ihnen schon damals eingeschrieben war. Mehr noch: man beginnt, diese Gegenwart in den Bildern jener Vergangenheit zu sehen, projiziert das Gewesene auf die Renditebauten, und man kann die Menschen von damals, die heute größtenteils verschwunden sind, deutlicher sehen. Das öffnet einen neuen Blick auf die künstlerische und die soziografische Qualität dieser alten Bilder. Behutsamkeit und die zweifelnde Suche nach einer bildnerischen Wahrheit, moralische Qualitäten mithin, brachten eine besondere Form hervor, die künstlerisch im Dokumentarischen und dokumentarisch im Künstlerischen war.

Helga Paris ist in Berlin aufgewachsen. Sie kam als Autodidaktin zur Fotografie. In atmosphärisch dichter Bildsprache beschreibt sie Menschen und deren psychischen und sozialen Beziehungen untereinander wie zu den Räumen, in denen sie leben. Das Besondere ist die Nähe dieser Bilder, die gar nichts Voyeuristisches hat, dafür eine Offenheit der Begegnung auch im genauen Bemessen des Abstands wahrt. Diese Passagen der Wirklichkeit führen selten zu pointierten oder hintergründigen Beobachtungen. Keine Metaphern oder Symbole, nichts drängt sich auf oder wird laut. Im Grunde sind es immer liebevolle Porträts: Zaghafte Selbstgewissheit, unsicherer Stolz, auch Unschuld: mitten im Verfall.


Aus einem unveröffentlichten Text von Matthias Flügge