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Selbst(er)findung als Selbstbehauptung

von Gerhard Haupt

(Druckversion)


Als Pat Binder ihren künstlerischen Weg begann, entdeckte sie die Ausdruckskraft transparenter Bilder. In Assemblagen eingebaute Röntgenaufnahmen projizierten Knochenformen auf die Wände. Zehn Jahre später fällt das Licht durch eine Fotoschicht auf Glasscheiben. Der Bogen eines analogen Prinzips scheint sich zu schließen, doch Welten liegen dazwischen. Aus dem geradlinigen Existentialismus der Anfänge ist das komplexe Gefüge einer Kunst geworden, in der sich vielfältige Bewußtseins- und Bedeutungsebenen überlagern und durchdringen. Ihre Kunst ist für sie heute ein Selbstverständigungsprozeß, der zuweilen wie bei dem Buch aus Sand in der Parabel ihres großen Landsmannes Jorge Luis Borges abläuft: man blättert, stößt auf Neues, will es festhalten, sich vergewissernd zurückschauen, aber die vorhergehenden Seiten vervielfachen sich bis ins Unendliche eines Labyrinths möglicher Einblicke und lösen sich schließlich auf wie feiner Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt. Aus zeitlicher Distanz ist nichts, wie es einmal war. Vermeintlich gültige Wahrheiten relativieren sich aus einer durch Erfahrung und Erkenntnis modifizierten Sicht. Selbst wenn sich bestimmte Gestaltungsideen wie ein roter Faden durch unterschiedliche Phasen ihres Schaffens ziehen, wandeln sich die Diktion und der Sinngehalt der Werke. Das bedeutet nicht unbedingt, daß frühere Intentionen völlig verworfen werden. In einem fortwährenden Anreicherungsprozeß geht so manches davon in eine erweiterte Wahrnehmung und künstlerische Reflexion der eigenen Existenz und des gesellschaftlichen Umfelds ein.

Auf die Verwendung von Röntgenbildern kam Pat Binder durch Zufall. Nach dem Studium der Malerei unterrichtete sie zunächst Kunsterziehung. Das war zum Überleben nötig und gab Zeit für eine Distanzierung von den Kriterien ihrer eigenen künstlerischen Ausbildung, die sie noch während der Militärdiktatur absolvierte. Es erschien ihr unfaßbar, wie man sich jahrelang abgehoben von der Realität nur mit Problemen des Pinselstrichs, der Komposition und der Farben beschäftigen konnte, während im Lande gemordet wurde und Nachbarn für immer verschwanden. Eine derart isolierte Welt der Malerei hinterließ das erschreckende Gefühl einer unglaublichen Ignoranz. Weil sie von daher den malerischen Mitteln mißtraute, suchte sie nach anderen, eindringlicheren Ausdrucksmöglichkeiten, mit denen das Geschehene direkter zu fassen wäre. Damit schwamm sie gegen den »mainstream«, denn um die Mitte der achtziger Jahre war in der internationalen Kunstszene, und auch in Argentinien, gerade der »Hunger nach Bildern« angesagt.

Als im Unterricht die Monotypie geübt wurde, fanden Schüler und Lehrerin in der glatten Fläche von Röntgenaufnahmen einen billigen Ersatz für die normalerweise als Druckunterlage verwendeten Metallplatten. Bald schon wurde Pat Binder die formale Intensität der lichtdurchlässigen Schwarzweißbilder vom verborgenen Inneren des Menschen bewußt. Das Knochengerüst durchleuchteter Körper erlangte für sie die Bedeutung eines existentiellen Zeichens von weitreichender Symbolik. Je nach dem Kontext, in den sie es durch die Kombination mit anderen Elementen in ihren Assemblagen stellte, variieren die Assoziationsmöglichkeiten innerhalb eines relativ begrenzten Spektrums. Zumeist geht es um die gemarterte Kreatur, das Aufscheinen transparenter Körper aus einem Nichts, in dem sie spurlos verschwanden, um ein Gefangensein oder ein beziehungsreiches, makabres Spiel mit einzelnen Extremitäten als Fortsatz fragiler Konstruktionen. Unscharfe Projektionen einzelner Bilder auf die dahinterliegende Wand steigern die Dramatik und lassen eine überhöhte, immaterielle Ebene aus Licht und Schatten entstehen. Immer wieder reflektiert sie in meditativen Objekten die eigene Befindlichkeit.

Daneben wandte sie sich anderen Materialien und Techniken zu. Dank ihrer Sammelleidenschaft hatte sie seit der Kindheit Schwemmhölzer, Baumrinden, Steine, Stöcke und eine Menge weiterer Fundstücke zusammengetragen, die ihr nun als Material für ihre Kunst dienten. Neben einzelnen Assemblagen und Objekten realisierte sie die ersten größeren Installationen. Noch immer zeichnete sie. So schuf sie ausgehend von der Maya-Schrift eine Serie von »Ero-Glyphen«, erotischen Piktogrammen auf langen Bahnen aus Zeitungsseiten. Das dabei auffällige Bemühen um eine zeichenhafte Verdichtung und Prägnanz ist auch in anderen Arbeiten zu erkennen und gehört seit damals zu den Konstanten ihres Schaffens.

Die erste Station bis heute andauernder Wanderjahre war 1989 Vancouver in Kanada. Ein Fortbildungskurs an der University of British Columbia brachte außer dem Erlernen neuer Techniken, so dem Schweißen, in künstlerischer Hinsicht keine nennenswerte Erweiterung des Horizonts. Andere Aspekte sind hingegen von großer Tragweite gewesen. Dazu gehört die erste Erfahrung einer Entwurzelung. Es war ein schmerzhafter Einschnitt, und auch in der Folgezeit fiel es ihr nicht leicht, das Gefühl der Heimatlosigkeit als Normalzustand zu akzeptieren und produktiv damit umzugehen. Später hat ihr unter anderem das Studium der Texte Vilém Flussers viel dabei geholfen. Obwohl sie Flusser nach wie vor so oft und gern zitiert, daß man gelegentlich ein »Magister dixit« zu vernehmen glaubt, folgt sie ihm nicht wie einem Guru. Vielmehr fand sie bei ihm eine Bestätigung eigener Beobachtungen, eine treffende und systematische Darstellung von Prozessen, die sie selbst durchlebt, und eine Orientierungshilfe für das eigene kritische Denken. In einer Zeit, in der im »Westen« das Interesse für die Kunst der südlichen Hemisphäre zu wachsen begann, von den Künstlern des »Südens« aber immer wieder bodenständige »Authentizität« als Identitätsnachweis erwartet wird, gibt ihr Flussers Loblied auf die kreativen Herausforderungen der Migration Rückhalt und Kraft für die Suche nach einem eigenen Konzept für ihre Kunst und ihre nomadische Existenz »zwischen den Sphären, zwischen den Formen, zwischen den Sprachen« (Edward W.Saïd).

Die zwei Jahre in Kanada sind eine formative Zwischenphase gewesen. Zwar öffnete sich der Blick für neue Themen, aber befriedigende künstlerische Umsetzungen blieben noch aus. Über die Beschäftigung mit psychologischen und naturphilosophischen Fragestellungen sowie mit fernöstlichen Religionen wurde Pat Binder das problematische Spannungsverhältnis von Natur und Kultur deutlicher bewußt. Im Land der schier endlosen Wälder erkannte sie dabei im Baum ein kulturübergreifendes Symbol des Universums. Sie unternahm erste Versuche, Teile von Bäumen mit dem Buch, dem Inbegriff von Kultur schlechthin, in Verbindung zu bringen. Möglicherweise stand Borges dabei Pate. Ihm zufolge ist das Buch unter den menschlichen Werkzeugen das erstaunlichste, denn während andere Hilfsmittel Erweiterungen manueller Funktionen oder der Sinnesorgane sind, ist es eine Erweiterung des Gedächtnisses und der Phantasie. Unter anderem verwies er darauf, daß im Orient heute noch die Vorstellung existiert, ein Buch dürfe die Dinge nicht offenbaren, sondern nur helfen, sie zu entdecken. Es ist also ein Anreiz, Gedanken zu folgen, sie auszulegen und ausgehend vom eigenen Wissen zu interpretieren. Der Bibliomane Borges schilderte ebenso das besondere ästhetische Erlebnis, das allein darin bestehen kann, ein Buch in die Hand zu nehmen, es zu öffnen und seine Seiten umzublättern. All das gehört zu den Gründen, weshalb Bücher Pat Binder in den folgenden Jahren nachhaltig faszinierten. 1991 kam sie nach Deutschland, einer weiteren Zwischenstation, und widmete sich ganz diesem Gegenstand.

Bücher sind für sie zivilisatorische Sinnbilder und holistische Zeichen, in denen sich die Welt im Kleinen kristallisiert und aus denen heraus sich unzählige Sichtweisen auf die Welt ergeben. Sie fand darin ein ideales Objekt für ihre Suche nach Vollkommenheit und Sinn. Aber ihr Umgang damit ist bei allem intellektuellen Hintergrund ein ästhetischer. Insofern ist es zumeist nicht entscheidend, welchen Inhalt die benutzten Bücher haben. Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel. Als sie 1993 jeweils zwei Bände der gesammelten Werke von Marx und Engels mit groben Eisenwinkeln aneinander schraubte, gehörte es zum Konzept, gerade diese Bücher, und noch dazu in einer DDR-Ausgabe, zu verwenden.

Das aufgeschlagene Buch definiert einen Raum, indem es in ihn hineingreift. Wie bei einer Skulptur ist dieser durch Äste und Konstruktionen aus anderen natürlichen Materialien erweitert worden, die weit aus dem durchbohrten Körper von Büchern herausragen. In anderen Objekten bleibt der Raum auf das Maß des geöffneten Buches begrenzt. Darauf montierte Assemblagen aus Holzstückchen, Bindfäden, getrockneten Fruchtschalen etc. werden durch den Fond der Seiten aufgewertet und erscheinen als nicht näher definierte, kryptische Zeichen. Diese »Ökoglyphen« evozieren einen idealen Urzustand des Einklangs von Kultur und Natur und lassen an dessen unwiederbringliche Auflösung denken. Dafür wurden ausschließlich alte deutsche Bände mit gotischen Lettern benutzt. Im Verschwinden der heute kaum noch verwendeten Schrift aus dem Alltag sieht Pat Binder eine Parallele zum Aussterben von Tier- und Pflanzenarten. Zum anderen reizte sie die spannungsvolle Korrespondenz der verästelten Gestalt der Schriftzeichen mit den davorliegenden organischen Formen.

Die Entstehung dieser Werke vollzog sich in einer Art rituellem Akt. Das Sakrileg des Durchbohrens und Zerstechens von Büchern, den Inkunabeln der Zivilisation, das Ordnen und Zusammenbauen von Versatzstücken der Natur und schließlich das Verbinden beider Bereiche sind Handlungen von symbolischer Tragweite. In Performances und Aktionen, wie »Bücher aufspießen - Kultur einfädeln« (1992, Internationales Gaia-Symposium im Ruhrgebiet) wurden sie als eigenständige künstlerische Artikulationsform präsentiert.

Bei einer solchen Arbeitsweise, die - auf der Ebene der Kunst - das Destruktive als Element eines konstruktiven, kreativen Prinzips einschließt und den schöpferischen Prozeß als solchen zelebriert, konnte es schon mal zu Mißverständnissen kommen. In London, dem nächsten Aufenthaltsort, eröffnete sich in einer verlassenen, teilweise abgebrannten Wäscherei ein äußerst anregendes Experimentierfeld. In der Abgeschiedenheit der weitläufigen Halle und der verschiedenen Nebengelasse erarbeitete sich Pat Binder über das Hantieren mit zahllosen, der Nutzlosigkeit anheimgefallenen Gegenständen ein neues Gefühl für Raum- und Materialkonstellationen. Das hatte tatsächlich etwas von einem Kultplatz oder einer Hexenküche. Ein zufälliger Beobachter ihres Treibens verständigte die Polizei, die mit einer Anzeige wegen Ausübung satanischer Rituale anrückte. Nur mit Mühe waren die Gesetzeshüter davon zu überzeugen, daß es sich tatsächlich nur um Kunst handelt.

Das sakrale Ambiente des Industriegebäudes aus dem 19. Jahrhundert scheint nicht ohne Wirkung auf die dort entstandenen Werke geblieben zu sein. Einige von ihnen haben eine eigentümliche Feierlichkeit, eine Aura von Retabeln oder Reliquienschreinen. Dialogisch an der Wand und am Boden angeordnete Teile repräsentieren als archetypische Symbole Himmel und Erde, werden zu Landschaften des Geistes, zu einer ganz persönlichen Kosmogonie. Auch Bücher tauchen wieder auf, jetzt zumeist als Träger der Energien von schriftlich fixierten Kulturen. Wie durch Nabelschnüre fließen Kraftströme zwischen ihnen und anderen Objekten hin und her.

Durch Zufall stieß Pat Binder beim Erkunden der Eastway Laundry auf Altöl in einem Abflußkanal. Sie begann, das klebrige, schmutzige Heizmittel über geöffnete Buchseiten zu gießen, wodurch die Vielfalt der in grazilen Buchstaben niedergeschriebenen Gedanken unter einer tristen, homogenisierenden Masse versank. Damit spielt sie auf die Gefahr einer Nivellierung der mannigfaltigen kulturellen Hervorbringungen unterschiedlichster Provenienz im Zuge einer fortschreitenden Vernetzung auch der letzten Winkel der Welt an. Diese bedrohliche Metapher einer Monokultur hat ebenso eine ökologische Konnotation. Allzuoft haben wir das ölverschmutzte Gefieder todgeweihter Seevögel nach Tankerhavarien gesehen, zu gegenwärtig sind die Bilder von kriegerischen Konflikten um den Zugang zu Förderstellen, als daß noch ein ungetrübter Gedanke an die Kostbarkeit des »schwarzen Goldes« aufkommen könnte. Gleichzeitig ironisiert Pat Binder durch das Gießen durchaus interessant wirkender Ölspuren traditionelle künstlerische Techniken. Ihr Einsatz dieser Substanz ist vielfältig. Wenn sie in Flaschen auf anderen Flüssigkeiten schwimmt, werden Bedeutungsebenen voneinander abgegrenzt. Profane Objekte, z.B. Plüschtiere, erhalten durch das Eintauchen in Rohöl eine Konsekration, durch die sie ihre Bedeutungslosigkeit verlieren und zu Kunst erhoben werden. Das »schwarzen Gold« macht sie kostbar, aber vernichtet sie zugleich. In Anlehnung an den Mythos vom Bad des Achilles, bei dem seine Ferse unbenetzt und damit verletzlich geblieben ist, bleibt eine kleine Stelle unberührt. Hier wird die Geschichte jedoch umgekehrt. Wie Pat Binder schrieb, soll damit eine Hoffnung bekundet werden: »Vom Verschmutzungsbad ausgespart, ... ist sie (die letzte saubere Stelle - G.H.) ein Stück Urzustand, ein Rest Unschuld, Natur - sich selbst überlassen: eine andere mögliche Zukunft«.

Der Mensch zerstört im Fortschrittswahn seine natürlichen Lebensgrundlagen und trauert trotzdem, oder gerade deswegen, einer von ihm noch nicht berührten Natur nach. In dem Moment, da er die letzten vermeintlichen Paradiese in Besitz nimmt, sind sie auch schon verloren. Dieser Widerspruch, die vergeblichen Bemühungen um Schadensbegrenzung oder Umkehr und die zweifelhafte Rolle der Kunst bei der Kompensation von Schuldgefühlen werden geraume Zeit zum zentralen Thema Pat Binders. Sie will nicht denunzieren, sondern Zustände, auch ihre eigenen, registrieren und untersuchen. Freilich steht dahinter eine unverkennbar kritische Haltung, ein Hinterfragen von Wertvorstellungen und Wahrnehmungsstrukturen. Doch hat sie keinerlei Illusionen hinsichtlich eines erzieherischen Effekts von Kunst. Schlüsse kann ein jeder nur entsprechend seiner eigenen Disposition ziehen.

Wieder einmal sollte ein Zufall nachhaltige Folgen für ihre Kunst haben. Auf einem Londoner Flohmarkt fielen ihr schwarzweiße Großdias in einem Metallkasten in die Hände. Sie empfand sie als Zeugnisse einer weit zurückliegenden, heilen Welt, denn auf den meisten waren idyllische Landschaften zu sehen, aufgenommen vor mehreren Jahrzehnten. In der Mehrzahl handelt es sich um Motive mit Flußläufen, Seen, Teichen oder anderen Gewässern. Wie bei einem Laborversuch montierte sie die Dias auf Milchflaschen. Dadurch erscheinen die Glasscheiben als Träger der hauchdünnen, hochempfindlichen Schicht eines Untersuchungsobjekts (den unversehrten Landschaften), und der Flaschenhals wird zur Lupe bzw. zum Mikroskop. Zusammen mit den Büchern, auf denen schwere Betonziegel wie architektonische Gebilde lasten, entsteht eine neue, artifizielle Landschaft, fragil und kompakt, visuell und geistig.

Angeregt durch den Dia-Fund ließ sich Pat Binder auf die aufwendige und diffizile Prozedur ein, selbst transparente Fotos auf Glasscheiben herzustellen. Vielleicht hätte es einfachere Techniken gegeben, um zu ähnlichen Resultaten zu gelangen. Anfangs glitt die Fotoschicht häufig wieder von der Glasplatte und verschwand im Ausguß, mehrmals hat sich die Künstlerin an den messerscharfen Kanten geschnitten, ohne daß sie im Rotlicht des Labors ihr eigenes Blut sah. Im Zeitalter der Computermanipulationen und angesichts der Möglichkeit, ohne allzugroße Anstrengungen Fotokopien oder Drucke auf fast jedem Untergrund herzustellen, hat dieses mühselige Verfahren etwas rituelles. Es wird hier mit dem Gebrauch von Altöl in Zusammenhang gebracht. So wie die banalen Alltagsgegenstände durch das Eintauchen in Öl eine »Weihe« als Kunst erfahren, werden die Silberkristalle erst durch das Entwicklerbad zum Bild »geweiht«. Dabei fallen gleichfalls Schadstoffe an. Eine (gewollte) Ironie besteht darin, daß Kunst mit ökologischer Motivation eben auch eine Umweltbelastung sein kann. Dennoch kommt kaum jemand auf die Idee, ihr das zum Vorwurf zu machen. Der spröde Bildträger hat eine metaphorische Bedeutung. Wenn er zerbricht, wird er gefährlich, schneidet und verletzt, so wie das zerstörte Gleichgewicht der Natur die menschlichen Existenz bedroht. Mit diesem Gedanken im Kopf stach Pat Binder in der Installation »Reinigungsrituale II« spitze Scherben so brutal in die sorgsam geglätte Wand, daß es jeden Ausstellungstechniker schmerzen mußte. Daneben laufen Rinnsale aus schmutzigem Öl von den »geweihten« Kuscheltieren an der weißen Fläche hinunter. Selbstaufnahmen zeigen das Thema als symbolische Handlung: den aussichtslosen Versuch, das ölverschmierte Fell der Stoffiguren sauberzubürsten. Fotos von Schildern mit Imperativen der Reinlichkeitsbesessenheit der Wohlstandsgesellschaft erscheinen daneben als bitterer Sarkasmus. Die fotobeschichteten Glassplitter, in seiner Unregelmäßigkeit jeder ein Unikat, sind Bruchstücke der Erinnerung und disparater Sichtweisen der Wirklichkeit, die sich nicht mehr zu einem intakten Ganzen zusammensetzen lassen.

Den jüngsten Arbeiten liegt eine intensive Beschäftigung mit einem zusehens von den elektronischen Medien beeinflußten Realitätsbegriff zugrunde. Darin geht es insbesondere um die Bilderflut, der wir heutzutage ausgesetzt sind und die unsere Wahrnehmung maßgeblich beeinflußt. Doch es wird über diese nicht aus der Perspektive einer distanzierte Medienkritik à la Neil Postman (»Wir informieren uns zu Tode«) räsoniert, sondern allgemeinen Zuständen im Wissen um das persönliche Involviertsein nachgegangen. Wir halten uns für umfassend und in der Regel wahrheitsgetreu informiert, nehmen tatsächlich aber selektierte Segmente der Wirklichkeit und die Projektion im weitesten Sinne selbstverfertigter Bilder wahr. Wie Flusser schrieb, führt ein »Feed-back-Bogen« dahin, daß diese Bilder zusehens besser werden, immer mehr so, wie die Empfänger sie haben wollen, wodurch die Empfänger sich selbst wiederum immer mehr den Bildern anpassen. Unser Umgang mit den vermeintlich objektiven Ausschnitten der Realität, mit den Fenstern zur Welt, läßt ein reflexives Verhältnis von Sein und Schein erkennen. »Wir sind daran, eine Bewußtseinsebene zu erklimmen, auf welcher das Erforschen der tieferen Zusammenhänge, das Erklären, Aufzählen, Erzählen, Berechnen, kurz das historische, wissenschaftliche, textuell lineare Denken von einer neuen, eingebildeten, 'oberflächlichen' Denkart verdrängt wird. Und daher hat es für uns jeden Sinn verloren, zwischen Eingebildetem, zwischen Fiktivem und 'Realem' unterscheiden zu wollen.« 1)

Das als Tatsache anzuerkennen impliziert nicht zwangsläufig, sich damit abzufinden. Es bleibt das Bedürfnis bestehen, sich im Trommelfeuer äußerer Einflüsse und permanenter Verunsicherungen als Subjekt zu definieren. Das heißt dahinterzukommen, was das Eigene, einem selbst Entsprechende ist und inwieweit man sich dem Druck gesellschaftlicher Konventionen, einer Gruppendynamik innerhalb bestimmter soziokultureller Milieus, der Erwartungshaltung anderer Personen oder eben von den Medien propagierten Verhaltensmustern und Werten in einer Weise unterwirft, die nicht der individuellen Persönlichkeitsstruktur und Befindlichkeit entspricht. Aus diesem Grunde war wohl nicht allein der künstlerische Anspruch gemeint, als Pat Binder in ihrem »Zapping«-Text schrieb, sie bemühe sich um eine »überlebensnotwendige Selbst(er)findung«, um ein »Eigenprogramm«, das sie als »Schützengraben meiner Sehnsüchte und Ängste, als Werbespot meines innersten Selbstgefühls« akzeptieren kann.

Die künstlerische Reflexion gesellschaftlicher Phänomene und eine auf die eigene Psyche gerichtete Selbstbefragung können bei ihr zwei eng miteinander verwobene oder aber relativ autonom nebeneinander existierende Seiten ein und desselben Werkes sein. Die »Zapping-Line« ist sowohl ein Ausdruck der mediatisierten Realität, die täglich über die Mattscheiben in die Wohnzimmer drängt, als auch ein persönliches Psychogramm. Damit soll beileibe nicht behauptet werden, daß die schwarzen Flächen, welche durch die Überlagerung vieler Bilder zustande kommen und einen »Informations-GAU« signalisieren, unbedingt einen »blackout« registrieren. In dieser Arbeit ist es Pat Binder besonders gut gelungen, der Gleichzeitigkeit und Interdependenz der Wahrnehmung und des Erlebens, die mit den elektronischen Medien über uns gekommen ist, mit statischen Mitteln eine adäquate künstlerische Entsprechung zu geben. Angesichts einer so tiefgreifenden Auseinandersetzung mit diesem Thema verwundert es indes nicht, daß sie sich jetzt direkt des Mediums der bewegten Bilder bedient. Möglicherweise kündigt die Videoinstallation »balottement«, eine faszinierende und sehr eindringliche Arbeit, eine völlig neue Phase in ihrem Schaffen an. Man darf gespannt sein, welche Energie und Kreativität sie weiterhin entwickelt, um sich im immer stärker anschwellenden Bilderstrom zu behaupten und ihr »Eigenprogramm« in diesen einzubringen. Bisher ist ihr das ohne Zweifel auf höchst interessante und unverkennbar persönliche Weise gelungen.


Anmerkung:
1) Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. European Photography, 4. Auflage, Göttingen 1992, S. 44


©  Gerhard Haupt / Website: Pat Binder

Veröffentlicht in:
Pat Binder: Zapping. Institut für Auslandsbeziehungen, Berlin 1996, Seiten 8 - 13
Katalog zur Ausstellung in der ifa-Galerie Berlin, 22.März - 5. Mai 1996


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